Ein Leserbrief unseres Mitgliedes Immanuel Handrock zur Berichterstattung über die Geburtstagsfeier von Günther Kissel vom 22.1.2007
Nichts gelernt?
Der Kampf für ein differenziertes Bild der eigenen deutschen Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen darf grundsätzlich als achtbares und sogar sympathisches Lebensziel des erfolgreichen Solinger Bauunternehmers Günther Kissel gesehen werden. Wenn der 90-jährige Mitbürger allerdings auch die zwölf braunen Jahre in Deutschland und ab 1939- im übrigen besetzten Europa in diese sonst legitime Betrachtung einbeziehen möchte, dann fehlt dafür nicht nur mir – einem drei Jahre älteren Ortsnachbarn -, sondern wohl der großen Mehrzahl überlebender Zeitzeugen des so genannten Dritten Reiches jedes Verständnis. An dieser kurzen, aber schwärzesten Epoche unserer Geschichte muss jeder Versuch einer Relativierung oder gar Rechtfertigung, etwa im Hinblick auf positive wirtschaftliche Daten, scheitern. Weder das baldige Ende der enormen Arbeitslosigkeit nach 1933 noch die begrüßenswerte, damals deutlich spürbare Förderung der Familie können die mit Beginn der Diktatur einsetzende Gewaltherrschaft und den mit Kriegsbeginn folgenden Massen- und Völkermord im Urteil der Geschichte auch nur annähernd ausgleichen. An dem bis dahin in unserem Land unvorstellbaren, im Rassen- und Größenwahn der Machthaber wurzelnden unmenschlichen Geschehen gibt es nichts zu differenzieren! Hier ging es um nichts anderes als um einen erst- und einmaligen Zivilisations- und Traditionsbruch in unserer Geschichte. Die zahlreichen Einladungen des Jubilars beiliegende umfangreiche ungehaltene Rede ist mir zwar textlich unbekannt geblieben. Aus der kurzen Darstellung im Beitrag der RP geht jedoch hervor, dass sie inhaltlich eine nicht mehr nachvollziehbare Herausforderung der demokratischen Gesellschaft darstellt. Und das durch einen bereits erwachsenen Zeitzeugen des vor 60 Jahren Gott sei Dank untergegangenen staatlichen Verbrecherregimes. Die Teilnahme eines großen Teils der Solinger Politprominenz an der Geburtstagsfeier des Privatmannes Kissel und eben nicht des bekannten Unternehmers ist ohne Einschränkung zu bedauern. Trotzdem alle guten Wünsche an Herrn Kissel für das neue Lebensjahrzehnt und gelegentlich erneutes Nachdenken darüber, ob das Credo vom differenzierten Bild unserer Geschichte auch für die Betrachtung der NS-Vergangenheit gültig und sinnvoll sein kann.
Immanuel Handrock ist Mitglied der beiden 1993 gegründeten Vereine Gegen Vergessen, für Demokratie und des Fördervereins des Fritz-Bauer-Instituts, das interdisziplinär die Geschichte und Wirkung nationalsozialistischer Massenverbrechen erforscht.
www.gegen-vergessen.de
www.fritz-bauer-institut.de/verein.htm
www.rp.online.de